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Interview übers Wandern bei Nacht«Wer nachts umherstreift, gilt als Dieb oder Vergewaltiger»

«Am besten bleiben Telefon und Taschenlampe unbenutzt.» Mit ins Gepäck gehörten sie auf einer nächtlichen Wanderung trotzdem, sagt John Lewis-Stempel.

Herr Lewis-Stempel, Sie wandern seit Jahren nachts durch Wälder, verlassene Dörfer, über Felder. Nun haben Sie ein Buch darüber geschrieben. Etwas kommt darin nie vor: Angst. Weil Sie keine hatten?

Nein, beim Nachtwandern habe ich keine Angst. Die Nacht ist eine Zuflucht für mich, sie ist entspannter als der Tag, weil einen niemand bei dem stört, was man tut. Ich kann mich nur an einen Moment erinnern, in dem ich Angst hatte.

Nämlich?

Ich lief in der Dunkelheit in einen Zaun, der wegen Strassenarbeiten aufgestellt worden war und mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ebenso habe ich Angst vor Autos – die Leute fahren nachts viel eher rücksichtslos, weil sie das Gefühl haben, die Strassen mit niemandem teilen zu müssen. Meine einzigen Ängste betreffen andere Menschen.

In Ihrem Buch schreiben Sie: «Ich schaute mich nach Kaninchen um, weil mir ein alberner Horrorfilm über Killer-Karnickel einfiel.» Was ist mit solchen Gedanken?

Ach, das ist etwas anderes, da geht es nicht um Angst, da geht es um Fantasie. Die Nacht erweckt unsere Vorstellungskraft zum Leben, weil wir weniger sehen, weil aber auch alles anders aussieht. Viele Schriftsteller vor mir haben die Kreativität der Nacht für sich entdeckt, in England war das Geoffrey Chaucer, in Deutschland Johann Wolfgang von Goethe. Nicht nur wird die Vorstellungskraft stimuliert, man hat auch mehr Zeit und Raum für Reflexion.

Der Hund, der Sie immer begleitet – vermittelt er Ihnen ein Gefühl von Sicherheit?

Ja, aber auf eine Weise, wie sich das wohl niemand denkt. Es ist eine alte, etwas faule Labradordame, die ich vor allem aus einem Grund mit dabeihabe: Wenn man als Mann mitten in der Nacht durch Dörfer streift, gilt man entweder als Dieb oder Vergewaltiger. Der Hund an meiner Seite gibt mir eine 24-stündige Legitimation, unterwegs zu sein.

Wie viele Begegnungen mit Menschen hatten Sie auf Ihren Spaziergängen?

Sehr wenige. Einmal stiess ich fast mit einem Bauern zusammen, der auf nicht allzu achtsame Weise auf dem Weg vom Pub zu seinem Hof war, leicht berauscht halt.

Wenn man dann doch mal jemanden antrifft nachts: Wie grüsst man? «Guten Abend» ist ja dann irgendwann unpassend?

Die Briten würden wohl genauso grüssen, auf ihre unprätentiöse Art.

An einer Stelle in Ihrem Buch heisst es: «Manchmal gehe ich nachts hinaus, und die ganze menschliche Demut ist weg.» Verleiht einem die Nacht, wenn man sich mal daran gewöhnt hat, ein erhabenes Gefühl?

Erhaben in dem Sinne, als man Teil einer Welt sein darf, die nichts mit der von tagsüber zu tun hat. Es ist ein sehr eigentümliches Gefühl, demütig und erhaben zugleich. Ich mag die Vorstellung, dass jeder Mensch zum Himmel hochschauen kann. Das ist ein sehr demokratischer Akt. Etwas vom wenigen, was wir alle gemeinsam haben, ist der Himmel über uns.

«Etwas vom wenigen, was wir alle gemeinsam haben, ist der Himmel über uns.» Für Nachtwanderer Lewis-Stempel ist das nächtliche Unterwegssein etwas zutiefst Demokratisches.

Was uns in der Nacht nach wie vor am meisten Angst macht, ist die Dunkelheit. Woher kommt das?

Die Angst vor der Dunkelheit hat ab dem Moment Einzug gehalten, in dem wir dachten, dass der Tag immer länger dauern müsse. Mit der Zivilisation kam die Beleuchtung und damit die Idee, den aktiven Teil unseres Lebens in die Nacht hinein zu verlängern. Interessanterweise haben wir uns mehr von der Nacht entfremdet, je mehr wir sie zum Tag machen wollten. Unsere Wertschätzung für und unser Verständnis von der Nacht haben sich in den Jahren der menschlichen Zivilisierung also zurückgebildet. Warum man die Dunkelheit genau fürchtet, verstehe ich nicht: Vielmehr sollte man sie schätzen, weil sie für Erholung und Ausgleich steht. Wenn ich mit meiner Familie einen neuen Wohnort ins Auge gefasst habe, ging es für mich stets darum: Ist es nachts dunkel genug? Kann man die Sterne sehen?

Wie dunkel ist es nachts noch?

In Westeuropa ist es schwierig, richtige Dunkelheit zu finden. In England fing ich in Herefordshire an mit dem Nachtwandern, das ist in den West Midlands, da ist es einigermassen dunkel. In Frankreich liegt mein Hof in der dünn besiedelten Charente, da herrscht auch eine gute Dunkelheit.

In der Schweiz gibt es den Naturpark Gantrisch im Kanton Bern, der seit neuestem das «Dark Sky Park»-Label trägt. Wie wichtig sind solche Orte?

Das Problem der fehlenden Dunkelheit kann man nur lösen, wenn man sich dessen bewusst wird. Insofern sind solche Orte schon wichtig, weil sie ja aufzeigen, dass es an anderen Orten zu hell ist und ein Nachthimmel allein noch kein dunkler Himmel ist.

Was muss getan werden, damit es nachts wieder dunkler wird?

Auch in urbaneren Gebieten kann man Lichtverschmutzung reduzieren. Durch nicht mehr permanent erleuchtete Bürogebäude, weniger helle oder intelligent dimmende Strassenlampen. Und es ist erstaunlich, wie viele private Häuser und Gärten nachts komplett ausgeleuchtet sind.

Und warum ist es wichtig, dass es wieder dunkler wird?

Die Nacht ist ein eigenes Ökosystem. Fledermäuse jagen nur nachts, Eulen ebenso, gewisse Vögel sind nur dann unterwegs. Es ist eine eigene kleine Welt, die es zu schützen gilt. Mit meinem Buch will ich zeigen: Die Nacht ist nicht etwas Leeres vor unseren Fenstern. Es ist eine Welt voller Leben.

Sie schreiben: «Ich kann einen Fuchs nachahmen, aber ich werde nie einer sein. Ich kann an der Nacht teilhaben, aber ich werde nie zur Nacht gehören.» Ist die Fähigkeit des Menschen, sich nachts zu bewegen, verloren gegangen – oder war sie gar nie da?

Vor vielen Tausend Jahren waren sich die Nacht und der Mensch noch nicht so fremd wie heute. Ich habe mich über Jahre hinweg in die Nacht vertieft. Ich musste lernen, mit der Dunkelheit umzugehen, mich mehr auf meine anderen Sinne zu verlassen. Ich bin noch immer ein Mensch des 21. Jahrhunderts, aber ich kann heute Bäume am Geräusch unterscheiden, das der Wind in ihren Blättern macht, oder anhand dessen, wie sich ihre Rinde anfühlt. Ich fühle mich in der Nacht relativ wohl. Und trotzdem werde ich nie wie der Fuchs sein, der sich durch die Nacht bewegt wie ein Fisch durchs Wasser.

Henry David Thoreaus «Night and Moonlight» beschreiben Sie als «Evangelium aller Nachtwanderer», das Buch ist aus dem 19. Jahrhundert. Inwiefern ist das, was Sie seit Jahren tun, etwas aus einer anderen Zeit?

Gute Frage. Tatsächlich fühlt es sich zum Beispiel in einer nebligen Nacht an, als würde man sich durch eine andere Welt, eine andere Zeit bewegen: Man sieht nichts, es ist totenstill. Es ist die Umwandlung einer gewohnten Umgebung in etwas komplett anderes. Ein Ort, den man zur Genüge kennt, kann einem nachts total fremd vorkommen. Ich habe nachts immer das Gefühl, ein Entdecker zu sein, obwohl ich mich oft durch vertraute Umgebung bewege. Es fühlt sich an wie in einem Jahrhundert, in dem noch nicht jeder Winkel der Erde entdeckt war. Wer will, kann nachts mit wenig Aufwand das Gefühl bekommen, Teil der Vergangenheit zu sein, weil man sich fast genau gleich bewegt wie die Leute damals: Man sieht keine Spuren und nutzt keine Hilfsmittel der Zivilisation.

Beim Lesen Ihres Buches überkommt einen das Gefühl, in der Zeit der Romantik zu versinken. Ist Ihr Buch übers Nachtwandern bewusst in dieser sehr empfindsamen Sprache verfasst?

Manchmal sagt man über meine Sprache, sie sei kompliziert. Und manchmal habe ich Glück, und die Leute sagen, sie sei poetisch. Ich habe versucht, diese Welt nicht aus der Distanz zu beschreiben, sondern sie ganz nah zu erfassen. Grundsätzlich möchte ich über die Natur von innen nach aussen schreiben, nicht von aussen nach innen. Anstatt eine Art Katalog dessen zu liefern, was ich gesehen habe, oder eine Reihe wissenschaftlicher Beobachtungen versuche ich zu erzählen, wie es sich anfühlt, dort zu sein.

«Ich habe nachts immer das Gefühl, ein Entdecker zu sein, obwohl ich mich oft durch vertraute Umgebung bewege», sagt John Lewis-Stempel. Ein Nachtwanderer bei Arolla im Kanton Wallis.

Ein paar allgemeine Fragen zur nächtlichen Tierwelt in Mitteleuropa: Boxen Hasen tatsächlich?

Ja, das tun sie. Während Jahren dachte man, dass es vor allem die Männchen seien, die gegeneinander antreten, aber tatsächlich sind es die Weibchen, die sich gegen unerwünschte Annäherungsversuche der Männchen wehren. Eine gute Lektion für die Menschen.

Welches Geräusch machen Dachse?

Sie husten. Tief und kehlig.

Und Füchse?

Sie können bellen, aber auch schreien. Wenn es in Westeuropa noch etwas wirklich Wildes gibt, dann ist es der Schrei einer Füchsin in einer Winternacht im Wald.

Schnarchen Igel?

Ja. Wir hatten es ja vorhin von der Angst, und tatsächlich dachte ich einmal, da liege ein erwachsener Mann schnarchend im Gebüsch, wobei mir ein bisschen mulmig wurde. Tatsächlich war es ein Igel.

Können Rehe bellen?

Ja, verwirrenderweise schon. Es klingt flach und nachts ohne Umgebungsgeräusche auch etwas urtümlich.

Sie sind während aller Jahreszeiten nachts gewandert. Wie nimmt man sie wahr, wenn die Sonne nicht scheint?

Vor allem durch die Nase. In der Nacht kann man schlechter sehen, also sind alle anderen Sinne geschärft. Dass man intensiver riecht, hat aber auch mit der erhöhten Aktivität der Tiere zu tun. Der Frühling etwa riecht, als ob die ganze Welt wachsen würde. Das wird im Sommer noch intensiver. Im Herbst gibt es alle möglichen fauligen Gerüche. Im Winter sind es die fehlenden Gerüche, die die Jahreszeit auszeichnen; das Gefrieren wirkt sich tatsächlich auf unsere Nase aus.

Und wann hört man am besten?

Die Lautstärke ist das ganze Jahr über ziemlich konstant. Es ist immer irgendetwas los. Rund um unseren Hof haben wir sehr viele Eulen. Deshalb gehe ich ständig raus und höre den Eulen zu. Tatsächlich sind unsere Eulen so laut, dass mein Sohn deswegen manchmal nicht schlafen kann. Ist das nicht ein fantastisches Problem?

Wie beeinflusst die Dunkelheit unser Zeitgefühl?

Es ist eines der Geheimnisse und Wunder der Nacht, dass die Zeit angehalten wird, sobald man sie betritt. Die Nacht ist wie ein eigener Kontinent, und der ist im doppelten Sinne zeitlos: Unsere Zeit, also der menschliche Alltag, setzt aus. Und die Zeit dehnt sich in die Länge. Manchmal kommt einem ein Spaziergang von einer Stunde vor wie eine lange Reise. Ich bin aber auch schon in der Gegend herumspaziert und habe dann im Morgengrauen festgestellt, dass ich sieben Stunden unterwegs war. Diese Schwebewirkung ist sehr beruhigend.

Tagsüber braucht es je nach Witterung Sonnencreme und Sonnenhut – gibt es etwas, was man nur nachts mit sich bringen muss?

Es gibt einige grundlegende Hinweise für alle, die nicht an nächtliche Spaziergänge gewöhnt sind: Nehmen Sie ein Telefon und eine Taschenlampe mit und sagen Sie den Leuten, wohin Sie gehen. Am besten bleiben Telefon und Taschenlampe unbenutzt, aber sicher ist sicher. Und wenn ich länger auf einer Strasse gehen müsste, würde ich eine Leuchtweste tragen.

Nachts unterwegs: Lieber allein oder zu zweit?

Verständlicherweise werden viele auf ihren ersten Nachtspaziergängen aus Sicherheitsgründen zu zweit unterwegs sein. Da habe ich nur den Rat: Reden Sie nicht! Menschen haben die schreckliche Tendenz, ständig reden zu wollen. Wenn man spricht, bekommt man weniger von seiner Umgebung mit. Und tatsächlich alarmieren wir damit sämtliche Tiere im Umkreis von einem Kilometer und verscheuchen sie grösstenteils.