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50 Jahre «Waterloo»Die Stadt, in der ABBA weltberühmt wurden

«Waterloo» holte am 6. April 1974 den Sieg mit 24 Punkten – vor Italien (18 Punkte) und den Niederlanden (16 Punkte). In der Folge avancierte die Single in elf Ländern zum Nummer-eins-Hit und verkaufte sich weltweit über 5 Millionen Mal.

Beichten oder bluffen? Paul muss sich entscheiden – in Sekundenbruchteilen. Gerade hat der 17-jährige Autogrammjäger im südenglischen Seebad Brighton die Unterschriften einer gewissen Anni-Frid und eines Björn ergattert, als Letzterer plötzlich fragt: «Weisst du eigentlich, wer wir sind?»

Paul entscheidet sich fürs Beichten: «Äh – nein.» Darauf Björn: «Wir sind Abba, und wir werden das hier gewinnen!» Am nächsten Abend sitzt Paul vor dem Fernseher, schaut den ESC, als Abba an diesem 6. April 1974 den altehrwürdigen Chansonwettbewerb aufmischen. In klobigen Silberstiefeln und rüschig-plüschigen Glitzerkostümen spielen sie mit ihrem fröhlichen «Waterloo» alle an die Wand – von Piera Martell, angetreten für die Schweiz mit schmachtend-melodramatischem «Mein Ruf nach dir», bis zur favorisierten Olivia Newton-John, am Start für Gastgeber Grossbritannien. 

Anni-Frid und Björn gaben Paul damals ein Autogramm (linke Seite). 50 Jahre später hält der heute 67-Jährige sein Autogrammbüchlein immer noch in Ehren.

«Schaut, von denen hab ich ein Autogramm», sagte Paul damals zu seinen Eltern und zeigte sein blaues Notizbuch – so, wie der Rechtsanwalt es heute auch noch gerne aufblättert und sich erinnert, als hätte er gestern vorm Dome gestanden, der ESC-Veranstaltungshalle. Ihre orientalisch ziselierten Türmchen und die in die Fassade eingelassenen Säulen könnten eher einen Palast schmücken. Und ein solcher steht tatsächlich gleich nebenan: Überladen mit vergoldeten Bananenblättern, glitzernden XXL-Lüstern und indisch anmutenden Zwiebelkuppeln, erinnert der Royal Pavilion ein bisschen an den Taj Mahal.

Was heute Brightons Wahrzeichen ist, wurde ab 1815 als Luxusdatscha im Auftrag des exzentrischen Kronprinzen und späteren Königs Georg IV. erbaut. Und genau wie so ziemlich alle Touristen, posierten 1974 auch alle beim ESC antretenden Künstler vor diesem Royal Pavilion – Björn und Benny händchenhaltend mit Anni-Frid und Agnetha. Es war eines der ersten Abba-Fotos, die nach dem ESC-Sieg um die Welt gehen sollten. 

Der Taj Mahal? Nicht doch: Der Royal Pavilion wurde aber tatsächlich nach indisch-orientalischem Vorbild gebaut.
Vier, die gleich Weltkarriere machen werden: Benny, Björn, Anni-Frid und Agnetha.

Im Dome, einst Reithalle des Kronprinzenpalasts, gastieren in den 1970ern Genesis (Eintritt: 70 Pence), Pink Floyd (1 Pfund) und David Bowie (1,20). Beim ESC 1974 sitzen im zweistöckigen, theaterähnlichen Zuschauerhalbrund 1700 Gäste – handverlesen. Denn die meisten Tickets wurden damals von Brightons Bürgermeister und seinen Kollegen in den Umlandgemeinden verteilt – an Familienmitglieder, Freunde und Mitarbeiter.

So kommt auch Carol Theobald durch ihren Mann, einen Parlamentarier, an VIP-Tickets. Die hat Carol, später Schönheitskönigin und heute Stadträtin in Brighton, bis heute aufgehoben und stellt sie als Leihgabe der Ausstellung «Abba – One Week in Brighton» (siehe Box) zur Verfügung, die das Brighton Museum ab kommendem Freitag zum 50-Jahr-ESC-Jubiläum zeigt, gleich neben dem Dome. 

Das obligate Foto vor dem Royal Pavilion: Abba, ein paar Tage bevor der ganze Rummel um sie losging.
Carol Theobald hat die Tickets und das Programmheft von damals aufgehoben. Smarte Entscheidung.

«Schon bei den ersten Takten von ‹Waterloo› war ich sicher: Die gewinnen», erinnert sich Carol . Ebenso wie Chris English, damals als Elektroingenieur für die störungsfreie Stromversorgung beim ESC verantwortlich. Dafür war er schon während der Proben tagelang in der Halle anwesend: «Als die Show endlich über die Bühne ging, konnten wir alle Songs mitsingen», erzählt er.

William Samson, damals 21, wird mit seinem ESC-Ticket kurz vor Showbeginn überrascht. Sein Vater, als Polizist am Dome stationiert, bekommt das Ticket geschenkt – und schickt seinem Sohn ein Taxi, sodass der gerade noch pünktlich eintrifft. Nach der Show hebt William in der leeren Halle alles auf, was ihm sammelnswert erscheint: eine Feder vom Kostüm der ESC-Moderatorin, VIP-Tickets, einen Probenplan, eine Serviette.

Und: ein Programmheft, auf dem er nachts um zwei dann die Autogramme von allen vier Abba-Musikern ergattert – wahrscheinlich als Einziger überhaupt. Auch diese Sammlerstücke sind in der Ausstellung zu sehen, ebenso wie das von Abba benutzte Schlagzeug – damals Leihgabe eines Musikgeschäfts in Brighton. «Das Abba-Museum in Stockholm will das Schlagzeug seit Jahren, aber die Besitzer rücken es Gott sei Dank nur für uns raus», sagt Ausstellungsmacherin Jodie East stolz. 

Mit einem solchen Ticket kam man damals in den Dome – und rauchen war, notabene, dort nicht erlaubt.

Abba stehen ihren ESC-Triumph vor 50 Jahren durch – buchstäblich. Denn ihre Kostüme (Björn: «Wir sahen schrecklich aus!») sind so eng, dass die vier Schweden sich darin nicht hinsetzen können, weshalb sie stehend vom Hotel The Grand zum Dome und zurück chauffiert werden. Das Grand, ein heute 160 Jahre alter, aussen weisser, innen deutlich angejahrter Palast mit vielfach gerissenem Teppich und abgestossenen Ecken, erinnert mit QR-Codes an viele Promigäste und den hier 1984 auf Premierministerin Thatcher verübten IRA-Bombenanschlag. Abba wohnen 1974 – passend zum Siegertitel «Waterloo» – in der Napoleon-Suite und bummeln draussen vorm Hotel über Brightons Promenade sowie den kieseligen Strand, wo sie für Fotos an einem Badekarren posieren. 

Im altehrwürdigen The Grand nächtigte schon so mancher Star. Natürlich auch Abba, als sie 1974 ein paar Hundert Meter weiter den ESC gewannen.

Diese Seafront verfällt heute zusehends. Der West Pier, einst eine von drei weit ins Meer reichenden Seebrücken, ragt nur noch als stählernes Gerippe aus dem Wasser, seit er 2004 – bereits völlig heruntergekommen – abbrannte. Der zentral gelegene, 500 Meter lange Palace Pier ist zwar nach wie vor ein blinkender, gut bevölkerter XXL-Vergnügungssteg mit Spielautomaten und Karussells. Aber drumherum sind viele Hotels und Läden dicht – ebenso wie Teile der einst prächtigen Promenade Marine Parade. Sie rottet unkrautüberwuchert und einsturzgefährdet vor sich hin – trotz vielfach plakatierter Rettungsinitiative mit Spendenaufruf. 

Dennoch: Brighton brummt! Acht Millionen Gäste kommen pro Jahr, an Wochenenden vor allem die «Daytripper» aus London, von denen viele durchgefeiert und mit Krebsrotsonnenbrand wieder heimfahren. Junggesellenabschieds-Trüppchen und das weibliche Pendant, die sogenannten Hen Parties, ziehen durch die Strandcafés und Discos des 250’000-Einwohner-Seebads, das heute nicht zuletzt ein Hotspot ist für alle, die sich hinter den Buchstaben LGBTQ versammeln.

Der West Pier, einst eine von drei weit ins Meer reichenden Seebrücken, ragt nur noch als stählernes Gerippe aus dem Wasser, seit er 2004 – bereits völlig heruntergekommen – abbrannte.
Der zentral gelegene, 500 Meter lange Palace Pier ist nach wie vor ein blinkender, gut bevölkerter XXL-Vergnügungssteg mit Spielautomaten und Karussells.

Denn Freizügigkeit ist Teil von Brightons DNA, seit der Badetourismus etwa 1750 begann – mit dem Arzt Richard Russel, der seine Dissertation über die wohltuende Wirkung des Meerwassers schrieb und vorsichtshalber gleich ein Sanatorium eröffnete für betuchte Gäste. Einer davon: Kronprinz Georg, dem sein Leibarzt eine Salzwasserkur gegen verfettete Halsdrüsen verschrieben hatte. 

Für den Royal – Spitzname «Prinny» – die Chance, sich fern der gestrengen Eltern und der spassbefreiten Gattin mit diversen Mätressen zu vergnügen, seiner Spielsucht zu frönen und sich noch runder zu futtern, als er schon war. Ins Meer wurde er daher per Badekarren bugsiert – von eigens dafür engagierten «Bathers» und «Dippers» – Fachpersonal fürs Nassmachen und Eintauchen. Die bekannteste unter ihnen, Martha «The Dipper» Gunn, eine kräftige, rotwangige Matrone, hängt bis heute als Ölschinken im Brighton Museum.

Prinnys Eskapaden spielten inmitten eines von Bohemians und Lebenskünstlern, gescheiterten Existenzen und Promis bevölkerten Seebads: Der Dandy Lord Byron war da, die Schriftsteller Charles Dickens und Theodor Fontane, später auch Paul McCartney oder Cate Blanchett. 

Wer sich heute an Brightons Strand in einem der blau-weissen Liegestühle eine laue Golfstrombrise um die Nase wehen lässt, könnte sich kurz fragen, wie es wohl sein mag, einen solchen Liegestuhl mit Karacho über den Kopf gezogen zu bekommen. So geschehen vor 60 Jahren, als sich an Pfingsten 1964 in Brighton die verfeindeten Jugendgangs der «Mods» und «Rocker» eine Massenschlägerei lieferten, die zunächst zur restlosen Überfüllung des dortigen Gefängnisses führte – und 15 Jahre später zu einem Kinodenkmal: im Film «Quadrophenia» mit Sting in einer der Hauptrollen. 

Sieh an: Da hätten wir also, neben Abba, noch ein Jubiläum.