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Chancengleichheit im StudiumBundesgericht entscheidet zugunsten einer Studentin mit Leseschwäche

Sieg vor Bundesgericht: Marion Vassaux kämpft für den Zugang von Behinderten zum Medizinstudium.

Marion Vassaux, eine 21-jährige Frau aus Lausanne mit Lese- und Schreibschwäche, hat ein ehrgeiziges Ziel: Sie möchte Tierärztin werden. Ihre Geschichte hat landesweit Aufmerksamkeit erregt, weil sie bis vors höchste Gericht um ihr Recht auf den Zugang zu ihrer Traumausbildung kämpft. Diesen hatte ihr die Universität Bern verweigert.

Am Dienstag haben drei Richterinnen und zwei Richter der zuständigen Kammer mehr als drei Stunden lang miteinander über den Fall, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit gerungen – und sich dann in einer dramatischen Wende ganz am Schluss für die junge Frau entschieden.

«Es war wie ein Krimi», sagte Caroline Hess Klein von der Behindertenorganisation Inclusion Handicap. Sie hatte Vassaux beim Rekurs unterstützt und nach Lausanne ans Gericht begleitet. Vor Bundesgericht erschienen auch Vertreterinnen und Vertreter verschiedener weiterer Behindertenorganisationen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichts wurde eine Verhandlung in Gebärdensprache übersetzt.

Unabhängige Überprüfung

Der Fall geht jetzt zurück ans Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Es muss mithilfe eines neuen, unabhängigen Gutachtens überprüfen, ob angehenden Studierenden mit Lese- und Schreibschwäche bei der medizinischen Zugangsprüfung mehr Erleichterungen gewährt werden können, als die Uni Bern bisher zuliess.

Zentral dabei: Es muss gewährleistet sein, dass die Chancengleichheit aller, also auch der nicht behinderten Anwärter, gewahrt bleibt.

Auf den Stufen des Gerichtsgebäudes sagte eine sichtlich bewegte Vassaux: «Ich bin erleichtert und froh, dass ich das alles miterleben durfte. Es ist das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl habe, dass meine Argumente gehört werden und dass meine Stimme ein bisschen weiter trägt, als es bisher der Fall war.»

Ein Drittel mehr Zeit

Vassaux war 2021 zur Zugangsprüfung in Bern angetreten. Im Vorfeld hatte sie der Uni ihren Fall klargemacht und ein Drittel mehr Zeit für die Lösung der Prüfungsfragen beantragt. Dieser Zeitzuschlag sollte ihr ermöglichen, auf Augenhöhe mit den anderen Teilnehmenden um einen Studienplatz zu kämpfen​​. Die Uni lehnte das ab und erhielt vom Verwaltungsgericht recht.

Eine Minderheit des Bundesgerichts folgte den Argumenten der Universität und meinte, dass ein Zeitzuschlag den Charakter des Zugangstests verändern würde. «Zentrale Fähigkeiten für das Medizinstudium könnten nicht mehr geprüft werden», sagte eine Richterin. Dazu gehört, unter Zeitdruck und Stress Informationen zu verarbeiten, Prioritäten zu setzen und schnell entscheiden zu können.

Ein zweiter Richter sagte, der Zeitzuschlag führe zu einer «Überkompensation» der Lese- und Schreibschwäche. Mehr Chancengleichheit für Behinderte würde demnach zu einer Benachteiligung der nicht behinderten Prüflinge führen.

Die Mehrheit der Richter argumentierte mit dem Gleichstellungsgesetz. Dieses schütze Rechte von Menschen mit Behinderungen. Massnahmen, die diesen Schutz nicht gewährleisten, seien nicht nur rechtswidrig, sondern auch diskriminierend.

Für die Mehrheit ist es nicht gegeben, dass ein Nachteilsausgleich für Behinderte den medizinischen Zugangstest ungerecht macht. Die Kammerpräsidentin verglich den Zeitzuschlag mit einer Brille, die sich Weitsichtige aufsetzen müssen, wenn sie die Aufgaben lösen sollen. Darum wünscht das Bundesgericht, dass eine unabhängige Stelle die Auswirkungen des Nachteilsausgleichs prüft.

Vassaux studiert jetzt Biomedizin

Nachdem sie zum Tiermedizinstudium in Bern nicht zugelassen wurde, hat Marion Vassaux nicht aufgegeben. Sie hat sich an der Universität Genf im Studiengang Biomedizin eingeschrieben und fühlt sich dort wohl.

Marion Vassaux und ihr Anwalt Cyril Mizrahi, der ihr von der Behindertenorganisation Inclusion Handicap zur Verfügung gestellt wurde.

Das Gerichtsurteil bedeutet noch lange nicht, dass sich Vassaux erneut für den Zugangstest anmelden kann. Sie habe momentan andere Prioritäten: «Ich bereite mich auf meine nächsten Prüfungen in Biomedizin vor, und in näherer oder fernerer Zukunft ist der Zugangstest kein Thema für mich.»

Sie freue sich aber über das Urteil, weil es nicht nur für sie selbst von Bedeutung sei, sondern auch für viele andere Menschen mit Lese- und Schreibschwäche, die Medizin und insbesondere Tiermedizin studieren wollten. «Das ist doch etwas sehr Schönes», sagte Vassaux.