Herbstkind

Herbst ist eine der vier besten Jahreszeiten der Stadt.
Wenn das schräg unter den Wolken einfallende Herbstlicht scharfe Konturen aus dem diesigen Himmel reisst, fällt die spätsommerliche Leichtigkeit von mir ab. Erste bunte Blätter kleben in den leicht angerosteten Tramschienen und teilen mir mit, dass meine jährliche Zeit der Besinnung fröstlend vor der Tür steht.
Es ist die Zeit der letzten Freiluft-Mittagsmahlzeiten – in Schichten gekleidet – unter der schwächelnden Sonne über der Bäckeranlage, mit Gesprächen durch kleine, erstmals sichtbare Dampfwölkchen über dem Tee. Nebenan wälzen sich Goretex-gesicherte Kinder in der feuchtkalten Wiese und drücken sich braungrüne Mosen in die Knie ihrer sauberen Hosen – beaufsichtigt von Müttern und Vätern, die sich morgens zu optimistisch gekleidet haben. Die echten Zürcher haben ihre freundlich lächelnden Sommergesichter wieder tief in die Taschen gepackt und zeigen sie nur an versteckten Ecken guten Bekannten.

Die Natur lässt ihre unanständige Fruchtbarkeit für ein paar Monate hinter sich.
Ich bin ein Herbstkind. Und der September hat mir wohl einen nicht unwesentlichen Anteil irischen Pathos ins Gemüt gesetzt. Natürlich liebe ich den Frühling mit seinen spriessenden Versprechen, auch den Sommer in der Stadt, die Fröhlichkeit, die heissen, späten Nächte, die Sonnenaufgänge mitten in der Nacht mag ich.
Aber im Herbst bin ich vollständig, versöhnt mit den dunklen Seiten des Lebens und der Stadt. Nicht depressiv, aber mit einem guten Schluck Melancholie. Mit Rahm und drei Stück Zucker. Es ist die Zeit, in der man sich wieder in seinen vier Wänden breitmacht, während der Nieselregen draussen Menschen in Halbhandschuhen auf dem Heimweg durch die frühe Dämmerung durchnässt.
Man freut sich nach der Arbeit mehr auf Zuhause, schläft am Wochenende ohne schlechtes Gewissen länger aus. Man isst lieber, mehr und besser, und die Bikini-Figur gehört einem vergangenen und zukünftigen Albtraum an. Es wird kälter, man wird fetter und bald malen Kinderfinger Herzchen und Penisse an beschlagene Tramscheiben. Verliebte Pärchen grübeln gemeinsam Würmer aus den heissen Marroni, bevor sie die Säckchen mit Inhalt wegschmeissen und ihren Lippen mit Küssen bessere Beschäftigung geben.

Nebel und nicht der Dampf der jugendlichen Kiffer zieht über das Wasser.
Das Sofa gewinnt seinen emotionalen Wert zurück, Netflix und DVD ersetzen die Nächte mit Freunden auf Bänken vor Bars. Singles migrieren von den Badis in die Clubs, um vor Weihnachten noch ein warmes Gschpusi für die gemütlichen Wochenenden zu ergattern. Liierte Männer richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Partnerinnen, befreit von sommerlichen Zwang ihres Reptilienhirns, der sie auf jedes Stückchen Haut reagieren liess.
Man lässt sich gehen und hat Erholungszeit bis der Advent mit seinem harten Konsumterror und den unsäglichen Firmenweihnachtfesten brutal in die Gemütlichkeit einbricht.
In diesem Sinne: Geniessen Sie den Herbst. Er ist eine der vier besten Jahreszeiten der Stadt.
6 Kommentare zu «Herbstkind»
passen zum thema mein liebstes herbstgedicht:
herbst
die blätter fallen von den bäumen,
ein hund bellt noimen
mit abstand die beste jahreszeit!…:-)
superschöner text 🙂
bin auch ein herbstkind, aber mir ging der wechsel dieses jahr etwas zu heftig :S (jammerjammer…..immer ist das wetter schuld….)
In den sanften herbstlichen Farben bekommt Redas Biss weiche Konturen. Spätestens im dichten Nebel des Novembers wollen wir die fadengerade Haltung wieder lesen.
Ein genuss vom feinsten diesen artikel zu lesen.
. . . und die vielen kleinen schönen wahren Details! Und alles ist so satt und schön und ruhig, stimmt einfach – vor dem Adventswahnsinn.
…gott, herr el arbi, sie werden wirklich alt. 🙂 aber ja – sie haben recht….