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Einst dunkel, nun hell: Die Stadt der historischen Extreme

Wie ein Mahnmal im Grossformat: Riga ist mit rund 700'000 Einwohnern die grösste Stadt des Baltikums. Foto: PD

Der Brivibas bulvaris beginnt beim Stadtkanal am Rand der Altstadt. Von dort führt er durch die sogenannte Neustadt stadtauswärts; allmählich werden die Erstklassgeschäfte auf den Strassenseiten zweit- oder drittklassig, der Brivibas bulvaris wird auch offiziell zur Brivibas iela, also vom Boulevard zur Strasse, gedowngradet. Doch Hauptsache, Brivibas – das bleibt.

«Brivibas» heisst Freiheit. Freiheitsboulevard, Freiheitsstrasse. Die Strasse hiess nicht immer so. Im 19. Jahrhundert – Lettland gehörte zum Zarenreich – war sie die Alexanderstrasse. Es galt, dem Monarchen und nicht der Freiheit zu huldigen. Doch 1919, als das Land erstmals in seiner Geschichte unabhängig wurde, schlug die Stunde der Freiheit. Aus der Alexander- wurde die Freiheitsstrasse.

1940 war es wieder vorbei mit der Freiheit, die Russen waren retour, wenn auch ohne Zar. Die Freiheitsstrasse wurde zur Leninstrasse – für ein Jahr. 1941 wurde sie zur Hitlerstrasse, 1944, nachdem die Rote Armee die NS-Besatzer vertrieben hatte, wieder zur Leninstrasse. Das blieb sie bis 1991. Dann kam die Freiheit zurück. Und mit ihr die Freiheitsstrasse.

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Riga, Hauptstadt Lettlands und mit 700'000 Einwohnern grösste Stadt des Baltikums, ist ein Faszinosum – ein schillerndes Gebilde, eine Stadt, deren Gesicht sich je nach Perspektive ändert. Da ist, Perspektive eins, das Gesicht einer Destination für das Jung-und-cool-Publikum: Die Restaurants sind chic, die Gerichte innovativ und die Preise hoch (etwa bei Biblio­teka Nr. 1); der Barista röstet seinen Kaffee mit der Attitüde des Trend-Gurus, demonstrativ hingebungsvoll und reichlich affektiert (etwa in der Rocket Bean Roastery); und die Boutiquen bieten feil, was die transkontinentale Jeunesse dorée gerade trägt (etwa bei Stag) – zu Preisen, die es mit Zürcher Preisen locker aufnehmen können.

Doch die Trendlokale im internationalen Vintage-Chic sind nicht die einzige Realität dieser Stadt. Die andere kommt, symbolisch verdichtet, in der Alexander-Lenin-Hitler-Freiheitsstrasse zum Ausdruck: Riga ist eine Stadt, die die Ausschläge der europäischen Geschichte mit brutaler Wucht erlebt hat. Jetzt geht Riga auf dem Fundament dieser Geschichte in die Zukunft – mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Es wird mit Hochdruck gebaggert und geschaufelt, Boutiquehotels entstehen, Finanzgesellschaften montieren Schriftzüge. Andere kommen in der neuen Zeit weniger gleitig voran: 800 Euro beträgt das Durchschnittseinkommen in Lettland. Die In-Places der Stadt liegen ausserhalb der Reichweite des einheimischen Normalpublikums.

Ein Mahnmal im Grossformat

Dabei darf man davon ausgehen: Die Schatten im Riga der Gegenwart sind eine milde Variante der Verdunkelung, verglichen mit jenen der Vergangenheit. Diese Vergangenheit, Gegenstand von düster-dunklen Spionage- und anderen Thrillern, von John Le Carrés «Agent in eigener Sache» bis Henning Mankells «Hunde von Riga», empfängt den Besucher wie ein offenes Buch. Das macht Riga zur Sensation: Die Stadt ist so etwas wie ein Mahnmal im Grossformat – den dramatischen Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts zum Gedenken.

Da ist die Kristus piedzimsanas katedrale im Esplanade-Park, die Christi-Geburt-Kathedrale mit exotischen Pflanzen rundherum und fünf frisch vergoldeten Kuppeln obendrauf. Heute ist sie wieder, was sie ursprünglich war: eine orthodoxe Kathedrale. Zwischendurch, während der Sowjetzeit, war hier ein Planetarium mit dem dezent subversiven Übernamen «Gottes Ohr». Während der deutschen Besetzung hatte die Wehrmacht in der Anlage eine Garnisonskirche eingerichtet.

Jugendstil-Stadt: Die Schwarzhäupterhäuser im Zentrum Rigas. Foto: PD

Da ist die Alberta iela, die Alberta-Strasse: ein Jugendstil-Konzentrat der Extraklasse und damit der Magnet schlechthin für die Touristenströme. Riga ist insgesamt eine Jugendstil-Stadt – 800 Bauten prägen das Stadtbild und sind so etwas wie die steinernen Zeugen des Entwicklungssprungs, den Riga im frühen 20. Jahrhundert genommen hatte: Die Stadt stieg damals zu einer der führenden Ostsee-Hafenmetropolen auf, entsprechend wuchs die Bevölkerung, entsprechend wurde gebaut. Besonders intensiv und erfolgreich baute Architekt Michail Ossipowitsch Eisenstein, Vater von Sergej «Panzerkreuzer Potemkin» Eisenstein. Allein an der kurzen Alberta-Strasse, die so etwas wie die Kulmination des Rigaer Jugendstils ist, baute Eisenstein sechs Häuser.

Acht Familien in einer Achtzimmerwohnung

Die Jugendstilpaläste, zumal die renovierten, sind heute wieder das, was sie einmal waren: das Domizil des zahlungskräftigen Rigaer Publikums. Geändert haben sich dessen Symbole – heute sind es die SUVs, die in einschlägigen Quartieren die Strassen säumen. Neben den chic aufgebrezelten Jahrhundertwende-Bauten gibt es weiterhin solche, die der Auffrischung harren. Sie vermitteln eine Ahnung davon, wie es aussah während der Sowjet-Ära. Die grossen Wohnungen wurden bis zum hintersten Quadratmeter vollgestopft. Acht Familien in einer Achtzimmer­wohnung: Das war nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Unwirtlich-abgenützt ist eine geradezu euphemistische Formulierung, wenn man ein paar Hundert Meter vom Rigaer Jugendstil-Nukleus entfernt das «Haus an der Ecke» – Stura maja im Original – betritt. Hier hatte während der Sowjet-Zeit der Geheimdienst KGB seinen Sitz. Hier fanden Verhöre statt. Hier verschwanden Menschen. Seit 2014 ist in den nur rudimentär renovierten Räumen ein Museum untergebracht – die Beklemmung erfasst einen sofort, wie man das Haus betritt.

Symbole der Befreiung

Riga ist eine Stadt der historischen Extreme: auf der einen Seite die Sinnbilder von Brutalität und Repression wie das «Haus an der Ecke». Auf der anderen Seite die Symbole der Befreiung, des Aufbruchs in ein selbstbestimmtes Leben. Zu Letzteren gehört die Nacionala Opera – die Nationaloper. Der neoklassizistische Bau, prächtig gelegen in einer Parkanlage neben dem Stadtkanal, war das erste Gebäude, das nach der Wende von 1991 renoviert wurde. Olga, die als Lehrerin arbeitet und als Stadtführerin ihr Gehalt aufbessert, erklärt, weshalb: «Wir sind ein singendes Volk.» Die Liebe zum Gesang ist so etwas wie der Kern der lettischen DNA. Die Oper ist das Denkmal dieser Liebe.

Und irgendwann, wie man vom «Haus an der Ecke» zur Nationaloper schlendert, in die Altstadtgassen einbiegt und auf die alten, im Lauf der Jahrhunderte speckig gewordenen Pflastersteine guckt, denkt man: Alles hat hier geändert, und das immer wieder – nur sie, die Pflastersteine, haben stoisch alles ertragen und alle getragen. Sie waren hier, als Riga noch eine sehr dunkle Stadt war. Und sie sind heute noch da, wo Riga zur hellen Stadt geworden ist.

Die Reise wurde unterstützt von Kira Reisen.